Pflegebedürftigkeit ist nachweislich ein Risiko, das mit Multiple Sklerose häufiger assoziiert ist. 4,1 Prozent der im Jahr 2021 im Deutschen MS-Register dokumentierten MS-Erkrankten nehmen ambulante Pflegehilfen in Anspruch. 23,4 Prozent, das heißt beinahe jeder vierte Multiple Sklerose-Erkrankte, bedarf der pflegerischen Unterstützung im häuslichen Umfeld (MS-Register 2020/2021 / Flachenecker et al. 2017). Diese Hilfe wird übereinstimmend mit der Allgemeinbevölkerung zumeist von nahen Angehörigen erbracht. Der Bedarf an pflegerischer Unterstützung steigt mit zunehmendem Alter und Dauer der Erkrankung deutlich an. Bei den über 60-jährigen Menschen mit MS betrug der Anteil fast 50 Prozent
Das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) hat keine direkte Entlastung der pflegenden Angehörigen mit sich gebracht und auch nicht eine finanzielle Entlastung der Haushalte mit pflegebedürftigen Menschen bewirkt. Die Erhöhung der Pflegesachleistungen um 5 Prozent zum 01.01.2022 war begrüßenswert. Dieser Aufschlag ist inzwischen jedoch mehr als aufgezehrt. Wer ambulante Pflege in Anspruch nimmt, ist aktuell gezwungen, entweder die Anzahl der Einsätze zu reduzieren oder muss mehr aus eigener Tasche zahlen. Das seit dem Jahr 2017 nicht mehr erhöhte Pflegegeld für Pflegebedürftige kann derzeit nicht mehr seinem Zweck gemäß, die Pflege in geeigneter Weise sicherzustellen, eingesetzt werden, da ein massiver Kaufkraftverlust besteht. Für das Pflegegeld bei Pflegegrad 3 ist für die Jahre 2022 und 2023 ein Kaufkraftverlust von fast 75 Euro bei 554 Euro prognostiziert.
Das grundsätzliche Problem, dass zu wenig Pflegekräfte bei steigenden Zahlen von pflegebedürftigen Menschen im Einsatz sind, wird auf kurze Sicht nicht abzustellen sein, bedarf aber weiter erheblicher Anstrengungen. Ausbildung und Qualifizierung von neuen Pflegefachkräften braucht Zeit. Hier bedarf es weiterer Schritte, um die Attraktivität der Pflegeberufe aufrechtzuerhalten oder zu steigern. Die DMSG sieht die Gefahr, dass die mit der Tariftreue-Regelung einhergehenden Kostensteigerungen zu Lasten der Qualität der Versorgung der Menschen mit MS insbesondere im ambulanten Bereich einhergehen und fordert daher einen adäquaten Ausgleich.
Die DMSG fordert, schnellstmöglich, das heißt noch in diesem Jahr, das Pflegegeld zu erhöhen, damit die Kostensteigerungen seit dem Jahr 2017 aufgefangen werden können. Zudem soll das Pflegegeld automatisch jährlich angepasst werden, um mit der Preisentwicklung Schritt zu halten.
Dringend nötig ist zudem die weitere vollumfängliche Flexibilisierung von Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege. Beide Leistungen müssen vollständig in ein einheitliches Pflegebudget vom mindestens insgesamt 2 x 1.774 Euro = 3.548 Euro überführt werden, das zeitlich nicht befristet ist, sondern angespart und aufgebraucht werden kann. Dazu sind Pflegekonten für jeden Pflegebedürftigen zu schaffen, über die er zur Beschaffung geeigneter Hilfen ohne bürokratischen Aufwand verfügen kann. Dabei ist sicherzustellen, dass eine vollständige Flexibilisierung der Kombination beider, bisher überwiegend separater, Leistungen vollumfänglich möglich ist. Belastungen von pflegenden Angehörigen könnte so auch bei kurzfristigen oder lang andauernden Ausfallzeiten ausreichend begegnet werden.
Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege sind als gleichwertige Entlastungsleistungen für pflegende Angehörige anzusehen und jährlich der Preissteigerung anzupassen. Dazu ist ein geeignetes Instrument heranzuziehen. Auf bundeseinheitliche Ausführungen im Sinne einer einfachen Inanspruchnahme dieses Pflegebudgets sowie Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen ist zu achten.
Die DMSG fordert ein Pflegebudget für Kurzzeit- und Verhinderungspflege in Höhe von derzeit mindestens 3.548 Euro sowie die jährliche Anpassung an die Preisentwicklung ab dem Jahr 2023.
Pauschale Auszahlung ohne Nachweis an alle Pflegebedürftige als Sofortmaßnahme und Flexibilisierung und Entbürokratisierung des Entlastungsbetrages nach § 45b SGB XI
In einem ersten schnellen Schritt sollte der Entlastungsbetrag pauschal – wie das Pflegegeld – an Pflegebedürftige jedes Pflegegrades ausgezahlt werden. Damit würde eine Erhöhung der Pflegegelder um 125 Euro für jeden Pflegebedürftigen erfolgen. Vielfach konnten die Entlastungsbeträge nicht für den entsprechenden Zweck eingesetzt werden, da in vielen Regionen Deutschlands keine oder nicht ausreichend Angebote vorhanden sind.
Die DMSG hält es für dringend erforderlich, dass einheitlich und dauerhaft geregelt wird, dass der Entlastungsbetrag für Pflegebedürftige aller Pflegegrade grundsätzlich frei verwendet werden kann und keine Anbindung an nach Landesrecht zugelassene Einrichtungen oder Pflegedienste erforderlich ist. Diese, derzeit ausschließlich aufgrund der Pandemie gewährte und verlängerte Möglichkeit, muss dauerhaft und unbefristet gewährt und eine dauerhafte Flexibilisierung ermöglicht werden. Ebenso empfehlen wir dringend, aus Gründen der Entbürokratisierung auf eine Nachweispflicht durch Vorlage von Belegen für diese Leistung dauerhaft zu verzichten.
Der Fokus ist auf die Stärkung der Hilfen in den Familien durch entlastende, niedrigschwellige und einfache Hilfen und Dienste zu legen, wofür weitere Mittel aus dem neu zu schaffenden Pflegebudget flexibel zur Verfügung stehen, die bisher nur für Kurzzeitpflege und Entlastungsleistungen einsetzbar sind. Eine gezielte Entlastung durch selbst beschaffte Hilfen für pflegende Angehörige kann gerade auch durch Haushaltsdienste erfolgen
Erhöhung der Pauschale für zum Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel
(§ 40 Abs. 2 SGB XI)
Auch vor dem Hintergrund der derzeitigen Preisentwicklung ist eine deutliche Anhebung der Pauschale zwingend erforderlich. Dabei ist es wichtig, dass es hier dauerhaft zu einer Erhöhung kommt, die ohne Befristung gelten muss und an die jährliche Preissteigerung angepasst wird.
Die am 01.01.2022 eingeführte Entlastung für Pflegeheimbewohner (sogenannter Leistungszuschlag nach § 43c SGB XI) war bereits mit ihrer Einführung als nicht ausreichend angesehen worden. Die aktuelle Preisentwicklung sowie die steigenden Personalkosten zeigen dies derzeit deutlich. Familien mit einem Pflegebedürftigen, der in einer stationären Einrichtung versorgt wird, müssen erhebliche finanzielle Mehrbelastungen in Kauf nehmen.
Dem kann nur durch eine Deckelung der übersteigenden Kosten der stationären Pflege entgegengewirkt werden. Dieser Deckel muss sich am Grad der Pflegebedürftigkeit bemessen und darf letztlich nicht das durchschnittliche Renteneinkommen in Deutschland abzüglich eines angemessen Pauschbetrages für alltäglichen Bedarf überschreiten.
Die bisherigen Maßnahmen haben nicht dazu geführt, dass der Anteil der Menschen, die auf Hilfe zur Pflege als „Sozialhilfeleistung“ angewiesen sind, seit der Einführung der Sozialen Pflegeversicherung signifikant geringer geworden ist. Das damalige Ziel, Menschen nicht aufgrund der Pflegebedürftigkeit auf Sozialhilfe zu verweisen, sollte weiterhin als Richtschnur dienen.
Die DMSG fordert den Gesetzgeber auf, geeignete Maßnahmen zur Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen auch bei stationärer Pflege zu ergreifen, damit der Grundsatz einer Sozialhilfe freien Leistung bei Pflegebedürftigkeit weiterhin besteht.
Die Flexibilisierungen hinsichtlich Familienpflegezeit und Pflegezeit, die aufgrund der Pandemie ermöglicht wurden, sollten ohne zeitliche Befristung weiter bestehen bleiben: Der derzeit befristet bestehende Anspruch auf Pflegeunterstützungsgeld für 20 Tage sollte unbefristet fortgeführt werden. Angesichts der aktuellen Preisentwicklung werden es sich viele Menschen nicht mehr leisten können, eine Familienpflegezeit in Anspruch zu nehmen und dabei auf einen Teil ihres Gehaltes zu verzichten. Die DMSG fordert den Gesetzgeber auf, bei der Inanspruchnahme eines zinslosen Darlehens auch einen Zuschussanteil vorzusehen. Die bisherige Härtefallregelung zur Stundung der Rückzahlungsverpflichtung sollte in eine Soll-Regelung umgewandelt werden. Gerade für pflegende Angehörige könnte auch der Anspruch auf Home-Office in Bereichen, in denen dies ohne weiteres möglich ist, zu einer Erleichterung der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege führen.
Die DMSG erneuert auch ihre Forderung, dass Selbsthilfeangebote im Bereich der Sozialen Pflegeversicherung unabhängig von einer Beteiligung durch Länder, Kommunen oder Kommunalverbände erfolgen sollen. Die bisherigen Regelungen verhindern die breite Ausrollung von Pflege bezogenen Selbsthilfeangeboten und somit eine Stärkung der Selbsthilfekräfte der pflegenden Angehörigen. Eine Entlastung von pflegenden Angehörigen durch Selbsthilfeangebote ist nur möglich, wenn diese dauerhaft ohne weitere zusätzliche Belastung der pflegenden Angehörigen angeboten werden können. Vielfach zeigt sich auch, dass alle hier genannten Entlastungsangebote nicht ausreichend bekannt sind, wenig Erfahrung mit Entlastungsangeboten vorhanden ist und die Angebote teilweise auch nicht als ausreichend entlastend wahrgenommen werden.
Quellen:
Berichtsband MS-Register 2020, https://www.msregister.de/fileadmin/resources/public/documents/publications/reports/Report_Bericht_2020_V32_Online.pdf/
Flachenecker P, Kobelt G, Berg J, Capsa D, Gannedahl M. New insights into the burden and costs of multiple sclerosis in Europe: Results for Germany. Mult Scler. 2017;23:78–90. pmid:28643593.